Zum 1. Juni 2018 verfügt die Bayerische Staatsregierung, dass in
allen öffentlichen Gebäuden des Freistaats Kreuze „an gut sichtbarer
Stelle“ anzubringen seien. Denn das Kreuz, so Ministerpräsident Markus
Söder (CSU), sei nicht allein ein religiöses Symbol, sondern auch ein
„Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“.
Das von LMU-Geisteswissenschaftlern neu gegründetete Bündnis für Kreuzvielfalt an Bayerischen Hochschulen nimmt
Markus Söder beim Wort, dass es ihm um die kulturell prägende Wirkung
des Kreuzes gehe und lädt am Vorabend des Inkrafttretens zu den „kollektiven Kreuzlektüren„,
einer wissenschaftlichen Performance vor dem Hauptgebäude der LMU. Dr.
Jenny Willner, Initiatorin des Bündnisses, und Christian Steinau, der
Pressesprecher, haben uns in die Hintergründe eingeweiht.
Ihr habt Euch als „Bündnis für Kreuzvielfalt an Bayerischen Hochschulen“ zusammengeschlossen. Warum? Jenny Willner & Christian Steinau: Mit
Markus Söders Aussage, es gehe ihm um den „Ausdruck der geschichtlichen
und kulturellen Prägung Bayerns“, wollte er vermutlich den Eindruck
vermeiden, er würde die Trennung von Kirche und Staat aufheben wollen.
Wir haben uns überlegt: Was passiert, wenn man seine Formulierung ernst
nimmt? Mit der kulturellen Wirkung des Kreuzes kennen wir uns als
Geisteswissenschaftler*innen aus.
Wer ist alles an dem Bündnis beteiligt?
Das Bündnis ist eine spontan entstandene Gruppe aus Studierenden, ehemaligen Studierenden und Lehrenden der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU,
der sich sehr rasch auch Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen
anderer Fachbereiche angeschlossen haben. Mit einer Gruppe von knapp 350
Leuten haben wir in den vergangenen Wochen Beispiele dafür gesammelt.
In der Popkultur, Musik, Literatur und auch Kirchengeschichte.
Das „Spottkruzifix“ am Palatin in Rom, datiert zw. 238 u. 244
Was versteht Ihr unter „Kreuzvielfalt“? Die kulturelle Prägekraft der Kreuzigung und des Kreuzes ist gewaltig –
nicht nur in Bayern. Das Kreuz hat ein Eigenleben innerhalb und
außerhalb der christlichen Theologie. Das bedeutet auch, dass sich das
Kreuz, das in den Behörden Bayerns aufgehängt werden wird, dem Einfluss
derjenigen entzieht, die es aufhängen wollen. Sehr früh schon gehörte
die – immer ein Stück weit säkularisierende – künstlerische Aneignung dazu. Beispielsweise die identifikatorische – blutige, pornografische – Verkörperung der Kreuzigung im eigenen Fleisch wie in der Serie Crucifixion von
Sebastian Horsley oder die leichtfertig-zynische Verspottung, wie in
einer der ersten Kreuzdarstellungen, einem sog. „Spottkruzifix“: eine
karikierende Ritzzeichnung am Palatin in Rom, datiert zw. 238 u. 244.
Was darf man sich unter den „kollektiven Kreuzlektüren“ vorstellen? Wie wird die wissenschaftliche Performance konkret aussehen? Wir werden einige markante Highlights aus der Geschichte
der Kreuzes- und Kreuzigungsdarstellungen vom 2. Jahrhundert bis heute
vorstellen. Es werden Texte von Meister Eckhart, Sigmund Freud, Peter
Weiss, Herta Müller und vielen mehr gelesen. Außerdem zeigen wir Bilder
und kommentieren sie mit Kurzvorträgen und kleinen Lesungen. Die
Beispiele reichen von der Zeit des frühen Christentums bis in die
Populärkultur der Gegenwart. Nimmt man Söder beim Wort, muss man auch
den Stimmen jüdischer Mitglieder der Münchner Räterepublik
Aufmerksamkeit schenken (z.B. den Gedichten Erich Mühsams) und ihren
Überlegungen zum Thema Kreuz und Christentum. Wichtig sind auch die
Perspektiven von Schriftsteller*innen aus arabischen Ländern oder die
Rolle des Kreuzes als S/M‑Fetisch, das beispielsweise auf Fotos der schwedischen Fotografin Elisabeth Ohlson Wallin angedeutet wird.
Es wird auch Wasser und Wein geben: das Ganze soll einen Festcharakter vor der LMU annehmen.
Wieviel Blasphemie dürfen wir erwarten? Blasphemie, auch Parodie, gibt es, seitdem es das Kruzifix
überhaupt gibt. Das hat die kulturell prägende Wirkung nun mal an sich.
Vieles von dem, was wir zeigen und kommentieren werden, könnte bestimmt
als blasphemisch eingestuft werden, wie Wallins Foto eines Kreuzes, das
aus dem Körper miteinander zärtlich umschlungener Männer gebildet wird
(s. Beitragsbild) und die Heiligkeit homosexueller Liebe zeigt. Wir
wehren uns entschieden gegen eine Verkürzung des Kulturbegriffes.
Zur Kultur gehören auch eine halbnackte FEMEN-Aktivistin, die ein
Kreuz mit einer Motorsäge traktiert. Was als heilig gilt, produziert nun
mal auch Blasphemie und Diskussionen darüber, was als heilig angesehen
wird und was nicht.
Ich darf also auch als nicht-christlich geprägter Morgenländler kommen? Unbedingt! Aber ob die Prägung durch das Kreuz wirklich
spurlos an Dir vorübergegangen ist, sei dahingestellt. Depeche Mode’s
Personal Jesus, Madonna’s Like a Prayer, Monty Python’s Life of Brian –
hat es alles keine Spuren hinterlassen? Auch in Zusammenhängen, in
denen Atheismus stark gemacht wird, stehen Kreuze, wenn sie vorkommen,
nach wie vor in einem Verhältnis zum theologischen Inhalt. Wie kann man
das beschreiben und analysieren? Etwa wenn der Künstler Francis Bacon
das Fleisch auf Metzgereitheken betrachtet und an Christus denken muss – aber nicht im theologischen Sinn, wie er betont. Das Kreuz prägt tiefer und anders als man denkt.
9 Mai 2018, Interview mit Max Büch
Zum 1. Juni 2018 verfügt die Bayerische Staatsregierung, dass in allen öffentlichen Gebäuden des Freistaats Kreuze „an gut sichtbarer Stelle“ anzubringen seien. Denn das Kreuz, so Ministerpräsident Markus Söder (CSU), sei nicht allein ein religiöses Symbol, sondern auch ein „Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“.
Das von LMU-Geisteswissenschaftlern neu gegründetete Bündnis für Kreuzvielfalt an Bayerischen Hochschulen nimmt Markus Söder beim Wort, dass es ihm um die kulturell prägende Wirkung des Kreuzes gehe und lädt am Vorabend des Inkrafttretens zu den „kollektiven Kreuzlektüren„, einer wissenschaftlichen Performance vor dem Hauptgebäude der LMU. Dr. Jenny Willner, Initiatorin des Bündnisses, und Christian Steinau, der Pressesprecher, haben uns in die Hintergründe eingeweiht.
Ihr habt Euch als „Bündnis für Kreuzvielfalt an Bayerischen Hochschulen“ zusammengeschlossen. Warum?
Jenny Willner & Christian Steinau: Mit Markus Söders Aussage, es gehe ihm um den „Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“, wollte er vermutlich den Eindruck vermeiden, er würde die Trennung von Kirche und Staat aufheben wollen. Wir haben uns überlegt: Was passiert, wenn man seine Formulierung ernst nimmt? Mit der kulturellen Wirkung des Kreuzes kennen wir uns als Geisteswissenschaftler*innen aus.
Wer ist alles an dem Bündnis beteiligt?
Das Bündnis ist eine spontan entstandene Gruppe aus Studierenden, ehemaligen Studierenden und Lehrenden der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU, der sich sehr rasch auch Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche angeschlossen haben. Mit einer Gruppe von knapp 350 Leuten haben wir in den vergangenen Wochen Beispiele dafür gesammelt. In der Popkultur, Musik, Literatur und auch Kirchengeschichte.
Das „Spottkruzifix“ am Palatin in Rom, datiert zw. 238 u. 244
Was versteht Ihr unter „Kreuzvielfalt“?
Die kulturelle Prägekraft der Kreuzigung und des Kreuzes ist gewaltig – nicht nur in Bayern. Das Kreuz hat ein Eigenleben innerhalb und außerhalb der christlichen Theologie. Das bedeutet auch, dass sich das Kreuz, das in den Behörden Bayerns aufgehängt werden wird, dem Einfluss derjenigen entzieht, die es aufhängen wollen. Sehr früh schon gehörte die – immer ein Stück weit säkularisierende – künstlerische Aneignung dazu. Beispielsweise die identifikatorische – blutige, pornografische – Verkörperung der Kreuzigung im eigenen Fleisch wie in der Serie Crucifixion von Sebastian Horsley oder die leichtfertig-zynische Verspottung, wie in einer der ersten Kreuzdarstellungen, einem sog. „Spottkruzifix“: eine karikierende Ritzzeichnung am Palatin in Rom, datiert zw. 238 u. 244.
Was darf man sich unter den „kollektiven Kreuzlektüren“ vorstellen? Wie wird die wissenschaftliche Performance konkret aussehen?
Wir werden einige markante Highlights aus der Geschichte der Kreuzes- und Kreuzigungsdarstellungen vom 2. Jahrhundert bis heute vorstellen. Es werden Texte von Meister Eckhart, Sigmund Freud, Peter Weiss, Herta Müller und vielen mehr gelesen. Außerdem zeigen wir Bilder und kommentieren sie mit Kurzvorträgen und kleinen Lesungen. Die Beispiele reichen von der Zeit des frühen Christentums bis in die Populärkultur der Gegenwart. Nimmt man Söder beim Wort, muss man auch den Stimmen jüdischer Mitglieder der Münchner Räterepublik Aufmerksamkeit schenken (z.B. den Gedichten Erich Mühsams) und ihren Überlegungen zum Thema Kreuz und Christentum. Wichtig sind auch die Perspektiven von Schriftsteller*innen aus arabischen Ländern oder die Rolle des Kreuzes als S/M‑Fetisch, das beispielsweise auf Fotos der schwedischen Fotografin Elisabeth Ohlson Wallin angedeutet wird.
Es wird auch Wasser und Wein geben: das Ganze soll einen Festcharakter vor der LMU annehmen.
Wieviel Blasphemie dürfen wir erwarten?
Blasphemie, auch Parodie, gibt es, seitdem es das Kruzifix überhaupt gibt. Das hat die kulturell prägende Wirkung nun mal an sich. Vieles von dem, was wir zeigen und kommentieren werden, könnte bestimmt als blasphemisch eingestuft werden, wie Wallins Foto eines Kreuzes, das aus dem Körper miteinander zärtlich umschlungener Männer gebildet wird (s. Beitragsbild) und die Heiligkeit homosexueller Liebe zeigt. Wir wehren uns entschieden gegen eine Verkürzung des Kulturbegriffes.
Zur Kultur gehören auch eine halbnackte FEMEN-Aktivistin, die ein Kreuz mit einer Motorsäge traktiert. Was als heilig gilt, produziert nun mal auch Blasphemie und Diskussionen darüber, was als heilig angesehen wird und was nicht.
Ich darf also auch als nicht-christlich geprägter Morgenländler kommen?
Unbedingt! Aber ob die Prägung durch das Kreuz wirklich spurlos an Dir vorübergegangen ist, sei dahingestellt. Depeche Mode’s Personal Jesus, Madonna’s Like a Prayer, Monty Python’s Life of Brian – hat es alles keine Spuren hinterlassen? Auch in Zusammenhängen, in denen Atheismus stark gemacht wird, stehen Kreuze, wenn sie vorkommen, nach wie vor in einem Verhältnis zum theologischen Inhalt. Wie kann man das beschreiben und analysieren? Etwa wenn der Künstler Francis Bacon das Fleisch auf Metzgereitheken betrachtet und an Christus denken muss – aber nicht im theologischen Sinn, wie er betont. Das Kreuz prägt tiefer und anders als man denkt.